03.09.2022

Neben der Spur

Kennst Du Phasen in Deinem Leben, wo Du das Gefühl hast nicht mehr Du selbst zu sein? Wo Du Dinge machst, die Dir langfristig gesehen mehr schaden als bringen? Einer der Gründe dafür könnte damit zu tun haben, dass Du zu empathisch bist. 

Zu empathisch? Geht das überhaupt? Überall hören, sehen und lesen wir, dass wir eine rücksichtslose Gesellschaft geworden sind. Laut diesen Berichten gibt es immer mehr Ich-zentrierte Menschen, die skrupellos sind und über Leichen gehen. Dort wird Empathie als „der“ Schlüssel zum beruflichen wie zum privaten Erfolg gefeiert. 

Empathie, also die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, ist für jeden Kontakt mit anderen Menschen grundsätzlich von Vorteil. Empathie sorgt dafür, dass Du Dein Gegenüber viel besser verstehen kannst. Das benötigst Du sowohl im Beruf, im Business als auch in Deiner Partnerschaft, in Deiner Familie oder mit Freunden und Freundinnen.

Leider weist niemand in diesen Berichten darauf hin, dass Du selbst eine so wichtige Fähigkeit wie Empathie übertreiben kannst. Denn auch Empathie hat eine Schattenseite, wenn Du es nämlich damit übertreibst. Mal angenommen, Du hörst nur noch auf andere, spürst nur noch andere, achtest nur noch auf die Bedürfnisse aller anderen – was ist dann mit Dir? Wie viel bleibt dann noch für Dich? 

Es tut mir an der Stelle sehr leid für alle Menschen mit Helfersyndrom. Das sind nämlich all jene, die herumlaufen und allen anderen einreden, sie müssten ständig für alle anderen da sein. Wer nicht so denkt und handelt, kriegt automatisch ein schlechtes Gewissen eingepflanzt, denn – laut den Rettern mit Helfersyndrom – ist man dann ein böser und rücksichtsloser Egoist oder gar Narzisst. Doch ihr vermeintlich positiv wirkendes Lebenskonzept ist enttäuschenderweise überhaupt nicht nachhaltig. 

Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir nur so viel entnehmen, wie natürlich zur Verfügung steht. Den Begriff hat übrigens seinerzeit Hans Carl von Carlowitz erstmals geprägt. Da ging es darum, dass man aus einem Wald nicht mehr Holz entnehmen soll, als natürlich nachwächst – alles andere ist nicht nachhaltig.

In der Wirtschaft käme niemand auf die Idee, ein Unternehmen so zu führen, dass es langfristig mehr Geld ausgibt als es einnimmt. Jeder mit halbwegs wirtschaftlicher Bildung weiß, dass dies über kurz oder lang einen Konkurs zur Folge hat.

Was diese „Retter“ leider nicht wahrhaben wollen ist, dass auch wir Menschen nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung haben: einerseits unsere (Lebens-)Zeit und andererseits unsere (Lebens-)Energie. Beides steht uns nicht unendlich zur Verfügung. 

Wer sich also hauptsächlich um die Bedürfnisse aller anderen kümmert und dabei sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse vernachlässigt, wird unweigerlich den Preis dafür zahlen müssen. Das könnten der Verlust der eigenen Identität oder eventuell auch längerfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen sein, wenn man sich selbst gar keine Ruhe und Erholung gönnt. 

Viele Frauen und Mütter kümmern sich liebevoll um andere Familienmitglieder, pflegen und hegen Wohnung, Haus, Garten. Manchmal vergehen Jahre bis Jahrzehnte, bis diesen Frauen bewusst wird, dass sie dabei auf sich selbst vergessen und – ähnlich wie bei Abholzungen im Regenwald – Raubbau an sich selbst betrieben haben. 

In helfenden Berufen ist die Gefahr sehr groß, sich für andere aufzuopfern. Wer im Sozialbereich engagiert ist, lernt üblicherweise im Zuge seiner Aus- und Fortbildungen Maßnahmen zum Ausgleich von Stress und zur Vermeidung von Burn-out. Diese Profis wissen in der Regel, wie wichtig es ist, sich regelmäßige Auszeiten für sich selbst und für seine Erholung zu gönnen. 

Auch manche Kreative, die in der Lage sind, feinste Schwingungen wahrzunehmen und sie als Inspiration für ihre Werke zu nutzen, verlieren manchmal das Gefühl für sich selbst. Eben weil es ihnen so leicht gelingt, in die Schuhe einer anderen Person zu schlüpfen. 

Um all die negativen Auswirkungen von übertriebener und ungesunder Empathie von vornherein zu vermeiden und die Balance zwischen Deinen Bedürfnissen und den Bedürfnissen aller anderen im Auge behalten, empfehle ich Dir Selbstbeobachtung durch Schreiben. 

Selbstbeobachtung durch Schreiben ermöglicht Dir, Deine eigene Wahrnehmung, Deine Empfindungen und das Feedback der Dich umgebenden Menschen auf Dein Verhalten zu reflektieren. Während des Aufschreibens geschieht nämlich ein kleines Wunder: Durch das Denken auf Papier tauchen plötzlich zusätzliche Perspektiven auf, die beim reinen Nachdenken nie entstanden wären. 

Für die Beobachtung der Balance zwischen Deinen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der anderen empfehle ich Dir, die nachfolgenden Fragen schriftlich zu beantworten. 

Hier sind nun die Fragen:

  1. Was habe ich für andere gemacht? Was habe ich anderen Gutes getan? Wie haben sie darauf reagiert?
  2. Was habe ich für mich gemacht? Was habe ich für mein Leben getan? Wie habe ich mich dadurch gefühlt?
  3. Welchen Zusammenhang konnte ich erkennen? Was hat sich dadurch für mich verändert?

Du kannst Dir diese Fragen entweder anlassbezogen beantworten oder Du beantwortest sie von nun ab regelmäßig: ein Mal pro Woche, alle zwei Wochen, ein Mal pro Monat, ein Mal pro Quartal oder ein Mal pro Jahr – je nachdem, wie das zu Deinem Leben am besten passt. Die Wiederholung hat den Vorteil, dass Du dadurch genauer beobachten kannst, ob sich etwas im Laufe der Zeit verändert.

Zu Selbstbeobachtung und zu Feedback gibt es auch auf meinem YouTube-Kanal mehrere Videos. Schau gerne dort vorbei und lass Dich von den Schreibtechniken inspirieren.



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