08.07.2023

Wie können wir Selbstbetrug entlarven?

Selbsttäuschung liegt vor, wenn wir bewusst oder unbewusst bestimmte Informationen ignorieren, verzerren oder rationalisieren. Studien zeigen, dass sich so gut wie jede oder jeder von uns bereits irgendwann einmal so verhalten hat. Das dient unserem Geist dazu, unsere eigenen Überzeugungen, Vorurteile oder Wünsche aufrechtzuerhalten. 

Nachdem ich diesen Blogbeitrag auf Instagram und Facebook angekündigt hatte, gab es einige Kommentare meiner Community. Mehreren Leuten fielen sofort Beispiele für Selbsttäuschung ein: Die Eltern oder Großeltern, die behaupten, dass Obst früher besser geschmeckt habe. Oder auch Menschen mit sehr niedrigem Einkommen, die nicht darüber nachdenken, wie sie ihre finanzielle Situation verbessern könnten, sondern behaupten, dass Geld nicht so wichtig sei. 

Oberflächlich betrachtet erscheinen diese beiden Beispiele lediglich auf einen unterschiedlichen Geschmackssinn oder eine andere Sichtweise hinzuweisen. Meinungen entstehen in der Regel aufgrund bewusster Auseinandersetzung mit Informationen und persönlichen Überzeugungen. Selbsttäuschung ist jedoch eine Verzerrung oder Vermeidung von Informationen, die der eigenen Vorstellung oder dem eigenen Wunsch widersprechen könnten. 

Selbsttäuschung ist eine natürliche Tendenz des menschlichen Geistes und geschieht oft unbewusst oder unabsichtlich. Menschen neigen dazu, sich selbst zu schützen oder ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, indem sie bestimmte Realitäten ignorieren oder verzerren.

Damit beschäftigt sich auch die Kognitionspsychologie. Das ist ein Teilbereich der Psychologie, der die Informationsverarbeitung im Gehirn untersucht. Forscher und Forscherinnen versuchen, die Mechanismen der Selbsttäuschung besser zu verstehen und zu erklären, warum und wie Menschen dazu neigen, sich selbst in die Irre zu führen. Hier sind einige Beispiele für Phänomene, die sie beobachten konnten:

  • Kognitive Verzerrungen“ könnten dazu führen, dass wir falsche Informationen bevorzugen oder Informationen gemäß unseren Überzeugungen interpretieren. Beim sogenannten Bestätigungsfehler ignorieren oder negieren wir Informationen, die nicht mit unseren eigenen Ansichten übereinstimmen, sondern wir fokussieren uns auf jene Informationen, die unsere bisherige Ansicht unterstützen.
  • Bei der „Gedächtnisverzerrung“ verändern oder verfälschen wir Erinnerungen an vergangene Ereignisse, dass sie besser zu unseren gegenwärtigen Überzeugungen passen. 
  • Ein weiteres Beispiel für Selbsttäuschung ist die „kognitive Dissonanz“. Um einen inneren Konflikt zu vermeiden, passen wir unsere Überzeugungen an oder rationalisieren diese. Kognitive Dissonanz entsteht, wenn eine Person widersprüchliche oder inkongruente Informationen oder Überzeugungen hat.
  • Um vor uns selbst und auch vor anderen gut dazustehen, versuchen wir, uns und anderen ein positives Bild zu vermitteln, um sozial akzeptiert zu sein oder Vorteile zu erlangen. Das nennt sich dann „soziale Kognition“.

Manchmal machen wir uns aus Selbstschutz etwas vor, um vor unangenehmen Wahrheiten oder Realitäten zu flüchten, die für uns Schmerz, Angst oder Stress bedeuten könnten. Es wirkt einfacher, sich selbst zu täuschen, als den Herausforderungen oder Konsequenzen der Realität ins Auge zu blicken.

Wir sind auch lange nicht so rational, wie wir oft denken. Nachdem Emotionen für die Art und Weise, wie wir Informationen verarbeiten und interpretieren, wichtig sind, können starke Emotionen unsere Wahrnehmung beeinflussen. Das kann dazu führen, dass wir uns selbst etwas vormachen, um unsere emotionalen Bedürfnisse zu erfüllen oder unangenehme Emotionen zu vermeiden. Du kannst also gar nichts dafür, wenn Du Dich selbst belügst. 

Hier sind einige Tipps, was Du tun kannst, um dem eventuellen Selbstbetrug auf die Spur zu kommen:

  1. Hinterfrage regelmäßig Deine eigenen Überzeugungen: Indem Du Dich gezielt darum bemühst, offen für neue Erkenntnisse zu bleiben, kannst Du besser zu objektiveren Einschätzungen gelangen und fällst weniger auf Illusionen herein. 
    Möglicherweise kennst Du Menschen, die veraltetes Wissen verbreiten. Auch wenn sie von jemandem, der aktuellere Informationen hat, darauf hingewiesen werden, ignorieren sie das und stellen ihre Überzeugung als die einzig richtige dar.
    Ein bekanntes Beispiel dafür war der Arzt Ignaz Semmelweis. Er hat Mitte des 19. Jahrhunderts herausgefunden, dass mangelnde Hygiene bei Entbindungen in Krankenhäusern die Ursache dafür war, warum in öffentlichen Kliniken bei Frauen häufiger Kindbettfieber auftrat als bei privaten Entbindungen. Seine Zeitgenossen haben ihn bedauerlicherweise nicht ernst genommen und seine Entdeckung als Unsinn verunglimpft. Man war damals der Ansicht, dass Hygiene  Zeitverschwendung ist. Dadurch entstand der in der Wissenschaft verbreitete Begriff Semmelweis-Reflex. Dieser beschreibt das Phänomen, dass neue Erkenntnisse von der etablierten Wissenschaft automatisch abgelehnt werden und die Person, die es entdeckt hat, mehr bekämpft als unterstützt wird, weil sie etwas gefunden hat, welches das gängige Denken in Frage stellt.
  2. Notiere Dir sofort widersprüchliche Beweise, anstelle sie zu ignorieren: Wenn Du trotz vorhandener Beweise oder Informationen, die im Widerspruch zu Deinen Überzeugungen oder Annahmen stehen, weiterhin an diesen festhältst und sie ignorierst, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass Du Dir etwas vormachst. Anstelle widersprüchliche Informationen zu ignorieren versuche eine neugierige Haltung einzunehmen, wie beispielsweise die Ermittler in einem Detektivroman. Ignoriere diese Hinweise nicht, sondern schreibe Dir solche Beobachtungen sofort auf. 
    Im Roman „Das Zeichen der Vier“ von Sir Arthur Conan Doyle wird Sherlock Holmes mit einem rätselhaften Fall konfrontiert. Während er nach Beweisen sucht, findet er Hinweise, die seine Vermutungen widerlegen. Holmes bleibt neugierig und notiert die widersprüchlichen Informationen sofort. Er findet heraus, dass einige Zeugenaussagen nicht übereinstimmen und einige Beweise nicht mit seiner ursprünglichen Theorie übereinstimmen. Er lernt, den Fall neu zu analysieren, verborgene Zusammenhänge zu erkennen und schließlich die Wahrheit zu entdecken.
  3. Durchschaue selektive Wahrnehmung: Wenn Du dazu neigst, nur Informationen oder Ereignisse wahrzunehmen, die Deinen Überzeugungen oder Annahmen bestätigen, während Du widersprechende Informationen ausblendest oder herunterspielst, könnte dies auf eine verzerrte Wahrnehmung hinweisen. Beschäftige Dich gezielt auch mit anderen Überzeugungen, um Deine Perspektive zu erweitern, indem Du Dir bewusst die wichtigsten Aspekte anderer Sichtweisen aufschreibst. Besonders schwierig ist dieser Perspektivenwechsel, wenn wir von etwas völlig überzeugt sind. Nimm eine positive und neugierige Haltung ein, die kleine Kinder oder Tiere von Natur aus mitbringen. Stell Dir vor, Du bist ein Forscher oder eine Forscherin, die ein neues Wissensgebiet entdecken möchte. Achte darauf, dass Du nicht automatisch dem zuvor erwähnten Semmelweis-Reflex unterliegst. 
  4. Vermeide Rationalisierung: Wenn Du versuchst, unangenehme oder widersprüchliche Informationen oder Ereignisse mit rationalen Erklärungen zu rechtfertigen, um die eigenen Überzeugungen aufrechtzuerhalten, könnte es ein Anzeichen dafür sein, dass Du Dir selbst etwas vormachst.
    Eine der größten Herausforderungen für Menschen in sozialen Berufen ist es, hilfsbedürftige Menschen davon zu überzeugen, Hilfe anzunehmen. Ich war einmal bei einem Vortrag eines Entwicklungshelfers, der in Sierra Leone wertvolle Arbeit leistet. Seine Organisation gibt Straßenkindern durch Schul- und Berufsausbildung eine neue Zukunft. Diese Kinder leben auf der Straße, weil ihre Eltern an Ebola verstorben sind und es in diesem Land kein Sozialsystem gibt, wo sich jemand um diese Waisenkinder kümmert. Er sagte, sobald Kinder eine Weile auf der Straße gelebt und sich an diese neuen Situation angepasst haben, reden sie sich ein, welche Vorteile das Lebens auf der Straße hat. Das ist ein typisches Beispiel für Rationalisierung. 
  5. Beachte emotionale Reaktionen: Starke emotionale Reaktionen wie Ärger, Ablehnung oder Angst in Bezug auf bestimmte Informationen oder Meinungen könnten darauf hindeuten, dass Du versuchst, unangenehme Wahrheiten zu vermeiden und Dir selbst etwas vorzumachen.
    Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Drama Romeo und Julia von William Shakespeare. Die Familien der Liebenden sind verfeindet. Nachdem sie sich vor der Ablehnung ihrer Angehörigen fürchten, verheimlichen Romeo und Julia ihre Beziehung. Dies führt jedoch zu Verwirrungen, Missverständnissen und tragischen Folgen. Sie täuschen ihren Tod vor und am Ende nehmen sie sich aufgrund eines tragischen Missverständnisses das Leben. 
  6. Bleibe für andere Perspektiven offen: Wenn Du nicht bereit bist, andere Standpunkte oder Meinungen zu hören oder in Betracht zu ziehen, sondern hartnäckig an den eigenen festhält, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass Du Dir selbst etwas vormachst. 
    Ein Beispiel für mangelnde Offenheit gegenüber anderen Perspektiven ist Jane Austins Roman „Stolz und Vorurteil“. Elizabeth Bennet ist der Meinung, dass Mr. Darcy arrogant ist. Sie beharrt auf ihrem ersten Eindruck und ignoriert Hinweise und Zeichen, die darauf hindeuten, dass ihre Wahrnehmung falsch ist. Als sie sich schließlich dazu entschließt, ihre Vorurteile zu überwinden, erkennt sie, dass sie sich getäuscht hat und dass Darcy ein aufrichtiger und liebenswerter Mann ist.
  7. Hole die Sichtweise einer vertrauten Person ein: Bitte wohlwollende, nahestehende und vertrauenswürdige Menschen in Deinem Umfeld um deren Einschätzung. 

Wenn Du aus diesen sieben Punkten eine Checkliste erstellst, kannst Du sie dazu nutzen, um bei wichtigen Themen zu untersuchen, ob Du Dich möglicherweise selbst betrügst. Dies setzt jedoch voraus, dass Du Dir selbst gegenüber stets ehrlich bist. 

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass schonungslose Ehrlichkeit zu sich selbst manchmal schwierig und unangenehm sein kann. Falls Du die Videos meines YouTube-Kanals kennst, weißt Du vielleicht, dass ich bereits Lebensphasen hinter mir habe, wo ich weder fit noch schlank war. 2009 hatte ich 20 Kilogramm mehr wie jetzt. Mir selbst einzugestehen, dass es nur eine einzige Person gibt, die dafür Verantwortung trägt und nicht irgendwelche äußeren Umstände, war einer der erste Schritte, um meine Situation zu verändern.

Somit weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es wichtig ist, dieses mitunter unangenehme Gefühl auszuhalten, das auftreten kann, wenn wir den Selbstbetrug entlarven. Später wirst Du erleichtert sein, weil Du die Täuschung durchschaut hast und Dir neu gewonnene Klarheit die Möglichkeit bietet, Gegenmaßnahmen zu setzen. 

Je öfter es Dir gelingt, die unbewussten Manipulationen Deines Geistes zu entlarven, desto leichter wird es. Zudem wirst Du Schritt für Schritt Deine eigenen Denkmuster und Verhaltensweisen kennenlernen und kannst sofort reagieren, falls etwas seltsam läuft. 

Einer der Hauptgründe, warum ich schon seit vielen Jahren Tagebuch führe, ist der sogenannte „Rückschaufehler“. Beim Rückschaufehler oder „hindsight bias“ glauben wir, wir hätten rückblickend bestimmte Dinge schon früher gewusst. Das ist jedoch Unsinn. Wenn ich mir Aufzeichnungen von früher ansehe, muss ich oft lachen, weil das natürlich nicht stimmt. Damals wusste ich natürlich noch nicht alles, das ich heute weiß. Möglicherweise kennst Du Menschen, die von der sogenannten „guten alten Zeit“ schwärmen. Ich kann das aufgrund meiner persönlichen Aufzeichnungen und Erfahrungen nicht bestätigen. 

Wenn Du Dich für weitere dieser Denkfehler interessierst, empfehle ich Dir das Buch „Die Kunst des klaren Denkens - 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen“ von Rolf Dobelli. Psychologie-Interessierte finden zusätzliche Informationen zu Selbsttäuschung im Psychologie-Lexikon von Werner Stangl oder lesen „Schnelles Denken, langsames Denken“ und „Noise“ von Daniel Kahneman.

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