5.10.25

Rebellion gegen das Vergessen

Am Freitag fuhr ich mit dem ICE von Wien nach Berlin, weil ich an diesem Wochenende an einer Fortbildung teilnehme. Den Sitzplatz mit Tisch hatte ich bereits im Juli reserviert, um die Zeit zum Arbeiten nutzen zu können: Für Content Creator oder Personen, die Kurse leiten, wie ich zurzeit jenen an der VHS Wien zum Thema Romane schreiben: von der Idee zur Szene, gibt es immer etwas zu tun.   

Doch der Laptop blieb während der gesamten Fahrt im Rucksack, denn ich hatte etwas Wichtigeres zu tun. Falls Du mich ein wenig kennst, weißt Du, dass ich gerne Inhalte erstelle, wie für diesen Blog, für den YouTube-Kanal oder für den Schreibgeflüster-Podcast, und ich hoffe, es ist auch für Dich die eine oder andere Inspiration dabei.

Was könnte mich davon abhalten, bereichernde Inhalte zu gestalten? Es ging während der Fahrt um meine persönlichen Notizen. In den vergangenen Tagen habe ich einiges erlebt, gelernt und gleichzeitig war aufgrund der Reisevorbereitungen eine Menge zu tun. Somit war es naheliegend, die Fahrt für meine persönlichen Aufzeichnungen zu nutzen, weil es so viel gab, was ich dringend notieren wollte. 

Alle, die viel schreiben, kennen dieses Gefühl. Es ist das sichere Wissen, dass es nur ein kleines Zeitfenster gibt, das genutzt werden muss, um wertvolle Gedanken festzuhalten, die verloren gehen, wenn sie nicht notiert werden. Aus meiner Sicht wäre es die reinste Ressourcenvergeudung und somit unvorstellbar, sie nicht aufzuschreiben. Falls Du jetzt nicht mit dem Kopf genickt hast, weil Du selbst schon eine Weile schreibst, möchte ich Dir ein Beispiel aus dem Beruf geben. 

Stell Dir einen erfolgreichen Betrieb mit 12 Beschäftigten vor. Neben der Unternehmensleitung gibt es einzelne Personen im Team, die schon seit Jahren dort tätig sind und aufgrund der Erfahrung im Fachgebiet jeden Spezialfall miterlebt haben. In kniffligen Situationen wissen diese Schlüsselpersonen immer eine Lösung. Jetzt geht eine von ihnen bald in den Ruhestand und damit wird nicht nur eine loyale Fachkraft, sondern auch das umfangreiche Spezialwissen dieses Team-Mitglieds den Betrieb verlassen. Es sei denn, es gibt ein System, um dieses Know-how zu sichern, wie in Form eines internen Wissensmanagements, was in Kleinbetrieben selten ist.

Oder Du nimmst an einem Seminar teil, das Dir wertvolle Erkenntnisse bringt. Du schreibst nicht mit, weil Du davon überzeugt bist, dass Du Dir ohnehin alles merken wirst. Wenige Tage später verblassen die Eindrücke und bald ist das meiste wieder weg. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Personen, die bei Fortbildungen handschriftliche Notizen machen, Inhalte besser in Erinnerung behalten als jene, die nur tippen.

Was wäre möglich, wenn Du unmittelbar nach Deinem Kurs erneut Deine Notizen zur Hand nimmst? Du arbeitest sie gezielt durch, vertiefst wichtige Inhalte und erstellst einen Plan, um das Gelernte Schritt für Schritt in die Praxis umzusetzen.

Unser Gehirn ist, gemeinsam mit anderen Organen, für unser Leben ebenso wichtig wie die Top-Fachkräfte in einem Kleinbetrieb. Viele kennen solche Situationen: uns fällt blitzartig eine Idee ein, wie wir ein Problem lösen können. Oder im Gespräch sagt jemand etwas, das gar nichts mit uns zu tun hat, doch uns wird aufgrund dieser Inspiration etwas klar, über das wir schon eine Weile nachdenken und vorher keinen Sinn ergab. Wenn wir solche Einfälle nicht sofort notieren, sind sie schnell wieder weg. Über die Wichtigkeit, seine Ideen sofort aufzuschreiben, gibt es hier bereits einige Blogbeiträge. 

Ähnlich ist es mit Erfahrungen und Erkenntnissen. Vielleicht hast Du im Alltag etwas erlebt, das zwar nicht lebensverändernd, aber trotzdem wichtig war. Es gab möglicherweise die eine oder andere Situation, in der Du anders als sonst gehandelt hast und hinterher zeigte sich, dass genau diese Strategie sinnvoll oder erfolgreich war. Hinterher denkst Du Dir: Das merke ich mir garantiert. Unbemerkt verblasst diese Erkenntnis wieder und beim nächsten Mal fällt Dir nicht mehr ein, was Du damals anders gemacht hast.

Auch mir ist seinerzeit etwas passiert, das mir gezeigt hat, dass unser Gedächtnis trügerisch sein kann.  Ich weiß, dass ich mich als sechsjähriges Kind noch an vieles erinnern konnte, was ich im Kindergarten erlebt habe. Einige Jahre später habe ich unser Familien-Fotoalbum durchgeblättert und war traurig, dass ich mich nicht mehr an die Namen der anderen Kinder aus dem Kindergarten erinnern konnte. Heute weiß ich, dass solche Erlebnisse dazu beigetragen haben, dass ich bereits als Schulkind mit dem Schreiben begonnen habe. 

Kürzlich habe ich auf meinem YouTube-Kanal eine kognitive Verzerrung vorgestellt, die damit zusammenhängt. Kognitive Verzerrungen sind Denkfehler, die im Gehirn unbewusst entstehen. Beim Recall Bias oder der Erinnerungsverzerrung glauben wir, wir könnten uns etwas, das frisch in Erinnerung ist, länger merken. Das ist jedoch eine Illusion. Wir merken gar nicht, wie uns unser Gehirn austrickst und nachträglich Erinnerungen verändert oder sie ganz verschwinden lässt. 

Im Kleinbetrieb könnte das interne Wissensmanagement dafür sorgen, dass wertvolles Know-how systematisch erfasst wird und nicht mehr verloren gehen kann.

Anstelle Dich bei Fortbildungen nur berieseln zu lassen, könntest Du handschriftlich mitschreiben und danach einen Plan ausarbeiten, was und wie Du diese Informationen in Deinen Alltag integrieren wirst.

Mit dem Aufschreiben Deiner Erfahrungen und Erkenntnisse sicherst Du Dir wertvolles, persönliches Know-how.

Diese Beispiele zeigen, wie wir gegen unser trickreiches Gehirn rebellieren können, das uns glauben lässt, wir würden uns vieles ohnedies merken, was, wie wir jetzt wissen, aufgrund des Recall Bias gar nicht möglich ist. 

Jetzt wirst Du vielleicht nachvollziehen können, warum mir persönliche Notizen während der Fahrt wichtiger waren. Diese Strategie kann ich auch Dir sehr empfehlen, denn jedes Notieren ist ein kleiner Akt der Rebellion gegen das Vergessen und gegen die Tricks unseres Gedächtnisses.

Weitere Beispiele, wie Schreiben Dich beim Denken unterstützen kann, findest Du hier im Blog, im Schreibgeflüster-Podcast oder auf meinem YouTube-Kanal. Weitere Tipps, Vertiefungen und Austausch gefragt? Werde Mitglied der kostenlosen Facebook-Gruppe oder des Reflexionsclubs.

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