26.10.25

Was Schreiben und Lehren gemeinsam haben

Kennst Du vielleicht den Spruch: „Wenn Du etwas wirklich verstehen willst, unterrichte es“? Er kam mir kürzlich in den Sinn, während ich den Kurs vorbereitete, den ich zurzeit an der VHS Wien leite. Gleichzeitig entstand ein weiterer Gedanke: Gilt das nicht auch fürs Schreiben?

Sobald wir Sachtexte verfassen, müssen wir ebenfalls unser Wissen ordnen, Zusammenhänge erklären, Beispiele finden und Widersprüche auflösen. Beim Lehren als auch beim Schreiben gibt es einen Doppelnutzen: Andere erfahren etwas und wir vertiefen unser Know-how.

In der Lernpsychologie gibt es sogar einen Begriff dafür: „Lernen durch Lehren“. Dieser wurde von Jean-Pol Martin geprägt. Studien zeigen, dass Menschen Lerninhalte besser behalten, wenn sie diese einer anderen Person erklären, als wenn sie den Stoff nur für sich selbst wiederholen.

Der Grund ist einfach: Beim Erklären müssen wir unser bisheriges Wissen neu organisieren. Schreiben wirkt ähnlich auf unser Gehirn, wobei wir bei diesem zeitgleich die Rolle der Lehrperson und der lernenden Person übernehmen.

Die Vorbereitung weist ebenso Parallelen auf: Wir können nur etwas unterrichten, das wir selbst durchdrungen haben. Wenn bei einem Kurs Fragen der Teilnehmenden auftauchen, müssen wir darauf vorbereitet sein. Das setzt voraus, dass wir uns ausführlich mit dem jeweiligen Themengebiet beschäftigt haben.

Beim Verfassen eines Artikels oder Buchbeitrags ist es ebenso erforderlich, uns damit gründlich zu beschäftigen. Selbst wenn wir uns damit bereits auskennen, ist es erforderlich, davor oder während des Schreibprozesses zu recherchieren und unser Wissen über den Inhalt unseres Textes zu vertiefen.

Dies gilt ebenso für Fachleute. Sie haben langjährige Erfahrung, kennen ihr Gebiet wie ihre Westentasche, wissen über aktuelle Trends aus der Branche Bescheid und verfolgen alle öffentlichen Diskussionen zu ihrem Thema.

Das eigene theoretische und praktische Wissen verinnerlicht zu haben und es jederzeit auf Knopfdruck blind umsetzen zu können, ist jedoch etwas gänzlich anderes als es einem Neuling zu vermitteln. Das kennen alle Führungskräfte, Selbstständige, Unternehmerinnen und Unternehmer, die Lehrlinge (in Deutschland werden sie Auszubildende genannt) beschäftigen wollen. Bei uns in Österreich schreibt der Gesetzgeber vor, dass die verantwortlichen Personen in den Lehrbetrieben dafür eine zusätzliche Ausbildung benötigen. Auch in Deutschland und in der Schweiz müssen Lehrpersonen in Unternehmen nachweisen können, dass sie dafür geeignet sind.

Zum Schreiben eines Textes wie diesem Blogbeitrag müssen wir zum Glück keinen gesetzlich vorgeschriebenen Kurs absolvieren, doch wenn wir den Post veröffentlichen wollen, benötigen wir ebenso zusätzliches Wissen, um ihn so zu verfassen, damit er für die jeweilige Zielgruppe leicht verständlich ist. Das gilt umso mehr, wenn wir etwas bislang (noch) nicht bis ins kleinste Detail kennen.

Bei jedem Vortrag würden halb gedachte Sätze sofort auffallen, sofern wir nicht vom Blatt ablesen, sondern frei sprechen. Unlogische Ideen zeigen sich auch beim Schreiben sofort. Das ist jedoch ganz normal und gehört zur Entstehung dazu. Wie ich gelegentlich von den Teilnehmenden meiner Workshops höre, irritiert das viele. Sie glauben, sie müssten bereits von Beginn an einen perfekten Text abliefern.

Das ist aber nicht der Fall, denn im Gegensatz zur Schularbeit während des Deutschunterrichts bleiben wir beim Schreiben unbeobachtet. Somit weiß außer uns kein Mensch, wie unser Text entstanden ist. Niemand erfährt, dass wir zuerst grobe Ideen notiert haben, die wir Schritt für Schritt durch unsere Recherchen ergänzen und so lange überarbeiten, bis unser Text rund ist. Wir durchlaufen beim Schreiben eines Sachtextes einen ähnlichen Prozess wie Lehrende: selbst verstehen, strukturieren, vereinfachen und die Inhalte zielgruppengerecht aufbereiten.

Beim Unterrichten als auch beim Schreiben entsteht eine deutlich gründlichere Verarbeitung, was dazu führt, dass wir das jeweilige Wissen nicht nur verstehen, sondern auch verankern. Hier gleich ein Beispiel:

Bei manchen Blogbeiträgen wie bei diesem habe ich zu Beginn nur eine grobe Idee. Diese schreibe ich mir in mein Notizbuch, zumeist ergänzt von ein oder zwei Sätzen, damit ich später weiß, was ich mir dabei gedacht habe.

Gestern begann ich, diesen Blogpost zu verfassen. Während des Schreibens habe ich zusätzlich recherchiert und das Thema ausgearbeitet. Da Du jetzt diesen Text liest, hat es dieses Mal auch geklappt.

Manchmal schreibe ich drauflos und erkenne währenddessen, dass meine ursprüngliche Idee nicht aufgeht: Entweder, weil ich noch zusätzliche Informationen benötige, die ich auf die Schnelle nicht auftreiben kann. Wenn der Blogbeitrag bereits am nächsten Tag online gehen soll, muss ich einen anderen Post verfassen. Oder, weil das Thema den Rahmen eines Blogbeitrags übersteigt. Dann bleibt der Text im Entwurfsmodus und ich arbeite zu einem späteren Zeitpunkt daran weiter, sobald ich daraus eine Podcast-Episode machen möchte. 

Unabhängig davon läuft mein Schreibprozess zumeist ähnlich ab: Zu Beginn ist vieles noch diffus. Erst durch das Schreiben wird es greifbarer. Manchmal verändere ich währenddessen die Perspektive oder das Thema. Gelegentlich baue ich den Beitrag komplett um, tausche Argumente aus oder streiche ganze Absätze weg. Stell Dir das wie ein Haus vor, wo ein Bauteil komplett abgerissen und zeitgleich ein neuer gebaut wird. Auch wenn es mitunter wie ein wilder Buchstabenhaufen aussieht, beunruhigt es mich nicht. Denn ich weiß, das ist völlig normal und Teil der Überarbeitung. Zeitgleich mit dem Schreibprozess vertieft sich stets auch mein Denken und Wissen über das, worüber ich schreibe.

Bei diesem Beitrag habe ich meine Kenntnisse über das Lernen durch Lehren vertieft und erfahren, dass auch in Deutschland und in der Schweiz strenge Vorschriften gelten, wenn ein Betrieb Lehrlinge bzw. Auszubildende beschäftigen möchte.

Wie mir aufgefallen ist, klappt das von sich selbst Lernen auch bei Texten, die ich nicht veröffentlichen will. Vielleicht hast Du Ähnliches erlebt: Du schreibst eine E-Mail, ein Konzept oder einfach ein paar Gedanken in Dein Notizbuch. Nach ein paar niedergeschriebenen Worten oder Sätzen ergibt etwas Sinn, das Dir vorher unklar war. Genau diese Geistesblitze sind ein Zeichen dafür, dass Du durch das Formulieren der Worte auf Papier erneut etwas von Dir gelernt hast.

Das ist auch einer der Gründe, die mich am Schreiben faszinieren. Schreiben ist nach innen gerichtetes Lehren und Lehren ist nach außen gerichtetes Denken. Beides macht Denken als auch Wissen sichtbar und führt zum selben Ziel: Unser Gehirn erkennt und entdeckt neue Strukturen. Für mich fühlt es sich großartig an und daher empfehle ich Dir, es einfach auszuprobieren, falls Du es nicht ohnehin regelmäßig praktizierst.

Weitere Beispiele, wie Schreiben Dich beim Denken unterstützen kann, findest Du hier im Blog, im Schreibgeflüster-Podcast oder auf meinem YouTube-Kanal. Weitere Tipps, Vertiefungen und Austausch gefragt? Werde Mitglied der kostenlosen Facebook-Gruppe oder des Reflexionsclubs.

5.10.25

Rebellion gegen das Vergessen

Am Freitag fuhr ich mit dem ICE von Wien nach Berlin, weil ich an diesem Wochenende an einer Fortbildung teilnehme. Den Sitzplatz mit Tisch hatte ich bereits im Juli reserviert, um die Zeit zum Arbeiten nutzen zu können: Für Content Creator oder Personen, die Kurse leiten, wie ich zurzeit jenen an der VHS Wien zum Thema Romane schreiben: von der Idee zur Szene, gibt es immer etwas zu tun.   

Doch der Laptop blieb während der gesamten Fahrt im Rucksack, denn ich hatte etwas Wichtigeres zu tun. Falls Du mich ein wenig kennst, weißt Du, dass ich gerne Inhalte erstelle, wie für diesen Blog, für den YouTube-Kanal oder für den Schreibgeflüster-Podcast, und ich hoffe, es ist auch für Dich die eine oder andere Inspiration dabei.

Was könnte mich davon abhalten, bereichernde Inhalte zu gestalten? Es ging während der Fahrt um meine persönlichen Notizen. In den vergangenen Tagen habe ich einiges erlebt, gelernt und gleichzeitig war aufgrund der Reisevorbereitungen eine Menge zu tun. Somit war es naheliegend, die Fahrt für meine persönlichen Aufzeichnungen zu nutzen, weil es so viel gab, was ich dringend notieren wollte. 

Alle, die viel schreiben, kennen dieses Gefühl. Es ist das sichere Wissen, dass es nur ein kleines Zeitfenster gibt, das genutzt werden muss, um wertvolle Gedanken festzuhalten, die verloren gehen, wenn sie nicht notiert werden. Aus meiner Sicht wäre es die reinste Ressourcenvergeudung und somit unvorstellbar, sie nicht aufzuschreiben. Falls Du jetzt nicht mit dem Kopf genickt hast, weil Du selbst schon eine Weile schreibst, möchte ich Dir ein Beispiel aus dem Beruf geben. 

Stell Dir einen erfolgreichen Betrieb mit 12 Beschäftigten vor. Neben der Unternehmensleitung gibt es einzelne Personen im Team, die schon seit Jahren dort tätig sind und aufgrund der Erfahrung im Fachgebiet jeden Spezialfall miterlebt haben. In kniffligen Situationen wissen diese Schlüsselpersonen immer eine Lösung. Jetzt geht eine von ihnen bald in den Ruhestand und damit wird nicht nur eine loyale Fachkraft, sondern auch das umfangreiche Spezialwissen dieses Team-Mitglieds den Betrieb verlassen. Es sei denn, es gibt ein System, um dieses Know-how zu sichern, wie in Form eines internen Wissensmanagements, was in Kleinbetrieben selten ist.

Oder Du nimmst an einem Seminar teil, das Dir wertvolle Erkenntnisse bringt. Du schreibst nicht mit, weil Du davon überzeugt bist, dass Du Dir ohnehin alles merken wirst. Wenige Tage später verblassen die Eindrücke und bald ist das meiste wieder weg. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Personen, die bei Fortbildungen handschriftliche Notizen machen, Inhalte besser in Erinnerung behalten als jene, die nur tippen.

Was wäre möglich, wenn Du unmittelbar nach Deinem Kurs erneut Deine Notizen zur Hand nimmst? Du arbeitest sie gezielt durch, vertiefst wichtige Inhalte und erstellst einen Plan, um das Gelernte Schritt für Schritt in die Praxis umzusetzen.

Unser Gehirn ist, gemeinsam mit anderen Organen, für unser Leben ebenso wichtig wie die Top-Fachkräfte in einem Kleinbetrieb. Viele kennen solche Situationen: uns fällt blitzartig eine Idee ein, wie wir ein Problem lösen können. Oder im Gespräch sagt jemand etwas, das gar nichts mit uns zu tun hat, doch uns wird aufgrund dieser Inspiration etwas klar, über das wir schon eine Weile nachdenken und vorher keinen Sinn ergab. Wenn wir solche Einfälle nicht sofort notieren, sind sie schnell wieder weg. Über die Wichtigkeit, seine Ideen sofort aufzuschreiben, gibt es hier bereits einige Blogbeiträge. 

Ähnlich ist es mit Erfahrungen und Erkenntnissen. Vielleicht hast Du im Alltag etwas erlebt, das zwar nicht lebensverändernd, aber trotzdem wichtig war. Es gab möglicherweise die eine oder andere Situation, in der Du anders als sonst gehandelt hast und hinterher zeigte sich, dass genau diese Strategie sinnvoll oder erfolgreich war. Hinterher denkst Du Dir: Das merke ich mir garantiert. Unbemerkt verblasst diese Erkenntnis wieder und beim nächsten Mal fällt Dir nicht mehr ein, was Du damals anders gemacht hast.

Auch mir ist seinerzeit etwas passiert, das mir gezeigt hat, dass unser Gedächtnis trügerisch sein kann.  Ich weiß, dass ich mich als sechsjähriges Kind noch an vieles erinnern konnte, was ich im Kindergarten erlebt habe. Einige Jahre später habe ich unser Familien-Fotoalbum durchgeblättert und war traurig, dass ich mich nicht mehr an die Namen der anderen Kinder aus dem Kindergarten erinnern konnte. Heute weiß ich, dass solche Erlebnisse dazu beigetragen haben, dass ich bereits als Schulkind mit dem Schreiben begonnen habe. 

Kürzlich habe ich auf meinem YouTube-Kanal eine kognitive Verzerrung vorgestellt, die damit zusammenhängt. Kognitive Verzerrungen sind Denkfehler, die im Gehirn unbewusst entstehen. Beim Recall Bias oder der Erinnerungsverzerrung glauben wir, wir könnten uns etwas, das frisch in Erinnerung ist, länger merken. Das ist jedoch eine Illusion. Wir merken gar nicht, wie uns unser Gehirn austrickst und nachträglich Erinnerungen verändert oder sie ganz verschwinden lässt. 

Im Kleinbetrieb könnte das interne Wissensmanagement dafür sorgen, dass wertvolles Know-how systematisch erfasst wird und nicht mehr verloren gehen kann.

Anstelle Dich bei Fortbildungen nur berieseln zu lassen, könntest Du handschriftlich mitschreiben und danach einen Plan ausarbeiten, was und wie Du diese Informationen in Deinen Alltag integrieren wirst.

Mit dem Aufschreiben Deiner Erfahrungen und Erkenntnisse sicherst Du Dir wertvolles, persönliches Know-how.

Diese Beispiele zeigen, wie wir gegen unser trickreiches Gehirn rebellieren können, das uns glauben lässt, wir würden uns vieles ohnedies merken, was, wie wir jetzt wissen, aufgrund des Recall Bias gar nicht möglich ist. 

Jetzt wirst Du vielleicht nachvollziehen können, warum mir persönliche Notizen während der Fahrt wichtiger waren. Diese Strategie kann ich auch Dir sehr empfehlen, denn jedes Notieren ist ein kleiner Akt der Rebellion gegen das Vergessen und gegen die Tricks unseres Gedächtnisses.

Weitere Beispiele, wie Schreiben Dich beim Denken unterstützen kann, findest Du hier im Blog, im Schreibgeflüster-Podcast oder auf meinem YouTube-Kanal. Weitere Tipps, Vertiefungen und Austausch gefragt? Werde Mitglied der kostenlosen Facebook-Gruppe oder des Reflexionsclubs.

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