Kürzlich erzählte in einem Gespräch eine Frau, wie sie sich den idealen Partner vorstellt. Sie wünschte sich jemanden, der so empathisch ist, dass er genau weiß, was sie will und braucht. Tage später fiel mir auf, dass Männer mitunter ähnliche Wünsche haben. Offenbar gibt es etliche Leute, die erwarten, dass andere besser wissen, was zu ihnen passt und für sie gut ist. In diesem Blogbeitrag gehen wir diesem Phänomen auf den Grund. Du erfährst, welche Auswirkungen damit verbunden sind und was ich anstelle dessen vorschlage.
Verantwortung abgeben
In welchen Lebensbereichen können wir dieses Verhalten beobachten? Vielleicht kennst Du Personen, die von der/dem Partner/in, von Angehörigen, Freundinnen und Freunden hoffen, dass diese erahnen, was sie sich zum Geburtstag wünschen. Auf die Frage, was sie sich wünschen, gibt es jedoch keine konkrete Antwort. Wenn sie etwas bekommen, das ihnen offensichtlich nicht gefällt, sind sie enttäuscht.
Im Restaurant gehen solche Leute davon aus, dass die Kellnerin oder der Kellner ihre geheimen geschmacklichen Vorlieben erraten. Das anonyme Küchenpersonal soll selbstverständlich das Essen exakt so zubereiten, wie es ihnen in dem Moment am besten schmeckt. Entspricht das Ergebnis nicht ihrem Geschmack, lassen sie das Essen zurückgehen.
Von Friseurinnen oder Friseuren erhoffen sie, dass sie das zu ihrem Typ optimal passende Haarstyling vorschlagen. Entspricht sie nicht ihren Erwartungen, reagieren sie verärgert. Auch bei Schuhen oder Bekleidung gehen sie davon aus, dass ihnen das Verkaufspersonal ein schickes Outfit vorschlägt, das genau dem entspricht, was optimal zu ihnen passt. Wird es nicht gemacht, sind sie sauer.
Dir ist möglicherweise das dahinterliegende Muster aufgefallen: Solche Leute glauben, dass sie selbst nicht denken, noch Verantwortung für ihre Bedürfnisse übernehmen müssen, sondern andere sollen Gedankenlesen können. Dabei übersehen sie einen wichtigen Punkt: Sie sind keine Kleinkinder mehr, die von Mama und Papa an der Hand genommen werden müssen, sondern erwachsene Menschen. Warum kommen sie daher auf die Idee, dass ihnen andere besser sagen können, was sie wann und vor allem wie benötigen?
Unterschiedliche Denksysteme
Wer bereits einige meiner Inhalte kennt, erinnert sich vielleicht an das Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ des Psychologen und Wirtschaftsnobelpreisträgers Daniel Kahneman. Kahneman stellt dort zwei Arten des Denkens vor: das intuitive, schnelle und das analytische, langsame Denken.
Kahneman nennt das schnelle, intuitive Denken „System 1“. Es arbeitet automatisch und mühelos wie wenn wir Zähne putzen oder bekannte Gesichter erkennen. Das langsame, analytische Denken bezeichnet er als „System 2“. Es benötigt mehr Energie, läuft bewusst ab und ist für komplexe Aufgaben zuständig wie beim Lösen schwieriger Rechenaufgaben oder der Analyse eines Problems.
Aus der Forschung wissen wir, dass unser Gehirn von allen Organen des Körpers mit rund 20 Prozent den größten Energieverbrauch hat. Um möglichst ressourcenschonend zu arbeiten, erledigt unser Gehirn die meisten Aufgaben des Tages mit dem schnellen, intuitiven Denksystem 1. Für alltägliche Routineaufgaben reicht dies in der Regel völlig aus.
Wenn es jedoch um Entscheidungen geht, ist das keine sinnvolle Strategie, denn das schnelle Denken ist leider fehleranfällig. Unser Gehirn nimmt bei dieser Art des Denkens Abkürzungen. Wichtige Aspekte bleiben dabei unberücksichtigt. Dabei entstehen automatisch, als Nebenprodukt des schnellen Denkens, sogenannte „kognitive Verzerrungen“. Diese Denkfehler laufen unbewusst und automatisch ab und auch wenn wir wissen, dass es sie gibt, können wir sie nicht vermeiden. Schauen wir uns an, welche in dem Zusammenhang wichtig sind.
Häufige Denkfehler
Bei der Konsensüberschätzung oder dem False Consensus Bias neigen wir dazu zu glauben, dass andere Menschen ähnliche Einstellungen oder Verhaltensweisen haben wie wir. Das ist zwar grundsätzlich möglich, in vielen Fällen ist es jedoch nicht so. Menschen haben als soziale Wesen das Bedürfnis, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben und hoffen, dass andere ganz genau so denken und fühlen wie sie.
In Wahrheit ist jede und jeder von uns ist individuell. Selbst eineiige Zwillinge sind trotz ihrer Ähnlichkeit unterschiedlich. Denn wir haben alle andere Erbanlagen, jede/r hat eine einzigartige Geschichte. Kein anderer Mensch hat idente Erfahrungen oder Ansichten, kann daher nicht genauso empfinden wie wir.
Aufgrund der Illusion der Transparenz oder Illusion of Transparency überschätzen wir, wie gut andere Menschen unsere inneren Regungen wie Gefühle, Gedanken oder Ansichten erkennen können. Empathische Menschen nehmen zwar unsere grundsätzliche Stimmung wahr. Was wir genau denken oder fühlen, ist für sie jedoch nicht erkennbar. Dies führt in Kombination mit der Konsensüberschätzung regelmäßig zu Missverständnissen oder Konflikten.
Wirklichkeitsfremde Vorstellungen
Wenn jemand den Anspruch hat, dass andere Leute die eigenen Bedürfnisse genauso oder noch besser wahrnehmen können wie man selbst, allen voran die Frau, die sich einen empathischen Partner wünscht, der genau weiß, was sie braucht, ist das unrealistisch. Dies ist aus wissenschaftlicher Sicht gar nicht möglich und daher so realistisch, wie von Eichhörnchen zu erwarten, dass sie unterirdischen Höhlen graben oder von Kaninchen, dass sie von Baum zu Baum springen.
Aufgrund solcher Erwartungen sind Missverständnisse regelrecht vorprogrammiert. Wir können weder unser Denken noch unser Fühlen an andere abgeben. Kein anderer Mensch kann das für uns übernehmen. Niemand hat unsere Gene, niemand hat unsere Persönlichkeit, niemand hat unsere Lebenserfahrung, niemand kennt uns so gut wie wir uns selbst. Schreiben kann eine wertvolle Unterstützung sein, unsere Gedanken und Gefühle zu Papier zu bringen, unsere Bedürfnisse kennenzulernen und auszudrücken.
Wie uns Schreiben beim Denken hilft
Schreiben eignet sich hervorragend, um kognitive Verzerrungen, wie die Konsensüberschätzung oder die Illusion der Transparenz, die unser Gehirn beim Denken automatisch macht, zu entlarven. Beispiele dafür findest Du in meiner Playlist auf YouTube.
Außerdem können wir durch Schreiben die Vorzüge beider Denksysteme nutzen. Wenn es darum geht, spontane, kreative Ideen zu notieren oder unser Bauchgefühl zu Papier zu bringen, kann Schreiben eine wertvolle Hilfe sein. Wir können wichtige, flüchtige Gedanken verschriftlichen, die ansonsten verloren gehen.
Zudem bietet uns das Schreiben die Vorzüge des langsamen, analytischen Denkens. Indem wir unsere Impulse unter die Lupe nehmen, finden wir heraus, wie realistisch sie sind. Aus Wünschen entwickeln wir durch Schreiben realistische Ziele und umsetzbare Pläne.
Beispiele, wie Dich Schreiben beim Denken unterstützen kann, findest Du hier im Blog, im Schreibgeflüster-Podcast oder auf meinem YouTube-Kanal. Weitere Tipps, Vertiefungen und Austausch gefragt? Werde Mitglied der kostenlosen Facebook-Gruppe oder des Reflexionsclubs.